Penicillin, eine der größten Entdeckungen in der Geschichte der Medizin, war ein Zufallstreffer.
Nach seiner Rückkehr aus den Sommerferien im September 1928 fand der Bakteriologe Alexander Fleming eine Bakterienkolonie, die er in seinem Londoner Labor zurückgelassen hatte und aus der ein Pilz hervorgegangen war. Wo immer die Bakterien den Pilz berührten, brachen seltsamerweise ihre Zellwände zusammen und sie starben ab. Fleming schloss daraus, dass der Pilz etwas für die Bakterien Tödliches absonderte – und der Rest ist bereits Geschichte.
Flemings Entdeckung von Penicillin und seine spätere Isolierung, Synthese und Skalierung in den 1940er Jahren lösten in den folgenden Jahrzehnten eine Flut von Antibiotika-Entdeckungen aus. Bakterien und Pilze hatten einen uralten Krieg gegeneinander geführt, und die Waffen, die sie dabei über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatten, erwiesen sich als der beste Schutzmechanismus der Menschheit gegen bakterielle Infektionen und Krankheiten.
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Strom neuer Antibiotika jedoch zu einem Rinnsal verlangsamt.
Ihre Entwicklung ist für Pharmaunternehmen unwirtschaftlich, und die einfacheren Gewinnmöglichkeiten sind seit langem bereits genutzt. Wir haben es nun mit dem Entstehen von Stämmen von Superbakterien zu tun, die gegen ein oder mehrere Antibiotika resistent sind, während das Arsenal, mit dem wir sie bekämpfen können, mittlerweile veraltet ist. Es ist wohl unumstritten, dass die geschätzten jährlichen 700.000 Todesfälle weltweit aufgrund von Medikamentenresistenzen bis zum Jahr 2050 auf bis zu 10 Millionen pro Jahr ansteigen könnten.
Wissenschaftler warnen zunehmend davor, dass sich das Blatt wendet, und wir brauchen dringend eine neue Strategie, um mit der bemerkenswert schnellen und grenzenlos kreativen Taktik der bakteriellen Evolution Schritt halten zu können.
Nachdem das goldene Zeitalter der Antibiotika seinerzeit durch Glücksfälle, menschliche Intelligenz und natürliche molekulare Waffen ausgelöst wurde, könnte sich seine Fortsetzung heutzutage auf das unheimliche Talent Künstlicher Intelligenz stützen, um auf der Suche nach dem nächsten Penizillin Millionen von Verbindungen zu überprüfen –- und sogar neue zu entwickeln.
Halicin als leistungsstarkes Antibiotikum entedckt
In einem Artikel, der der vergangenen Woche im Fachjournal ‘Cell’ veröffentlicht wurde, haben Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) einen Schritt in diese Richtung getan. Nach Angaben des Teams hat sein Algorithmus für maschinelles Lernen nämlich ein leistungsstarkes neues Antibiotikum entdeckt.
Das Antibiotikum mit der Bezeichnung Halicin, hat bereits erfolgreich Dutzende von Bakterienstämmen ausgelöscht, darunter einige der auf der Liste der Weltgesundheitsorganisatio als am gefährlichsten eingestuften arzneimittelresistenten Bakterien. Im Gegensatz zu dem vorhandenen Antibiotikum Ciprofloxacin entwickelten die Bakterien während eines Beobachtungsmonats auch keine Resistenz gegen E. coli.
“Bei der Entdeckung von Antibiotika ist dies absolut eine Premiere”, sagte Regina Barzilay, leitende Autorin der Studie und Professorin für Informatik am MIT, gegenüber der Zeitung The Guardian.
Der Algorithmus, der Halicin entdeckte, war auf die molekularen Merkmale von 2.500 verschiedenen Verbindungen trainiert worden. Fast die Hälfte davon waren von der US-Gesundheitsbehörde FDA zugelassene Medikamente und bei den weiteren handelte es sich um 800 natürlich vorkommende Substanzen. Die Forscher haben den Algorithmus speziell darauf abgestimmt, nach Molekülen mit antibiotischen Eigenschaften zu suchen, deren Strukturen sich jedoch von den vorhandenen Antibiotika unterscheiden würden (wie dies bei Halicin der Fall ist). Mit einem anderen Programm für maschinelles Lernen überprüften sie die Ergebnisse auf diejenigen hin, die für den Menschen wahrscheinlich sicher sind.
Erste Studien legen den Schluss nahe, dass Halicin die Zellmembranen der Bakterien angreift und deren Fähigkeit zur Energieerzeugung stört. Um sich vor Halicin zu schützen müssten die Zellmembranen der Bakterien möglicherweise mehr als ein oder zwei genetische Mutationen entwickeln, was für die beeindruckende Fähigkeit von Halicin zur Verhinderung von Resistenzen verantwortlich sein könnte.
“Ich denke, dies ist eines der stärksten Antibiotika, die bisher entdeckt wurden”, sagte James Collins, MIT-Professor für Bioingenieurwesen und leitender Autor gegenüber The Guardian. “Es hat eine bemerkenswerte Wirkung gegen eine breite Palette von Antibiotika-resistenten Krankheitserregern.”
Neben Tests unter Laborbedingungen in Petrischalen-Bakterienkolonien testete das Team Halicin zudem auch in Mäusen. Das Antibiotikum beseitigte dabei an einem einzigen Tag Infektionen durch einen Bakterienstamm, der gegen sämtliche bekannten Antibiotika resistent war. Das Team plant weitere Studien in Zusammenarbeit mit einem Pharmaunternehmen oder einer gemeinnützigen Organisation und hofft, dass Halicin letztendlich als sicher und effektiv für die Anwendung beim Menschen bewiesen werden kann.
Dieses letzte Stück bleibt angesichts der Kosten für die Zulassung eines neuen Arzneimittels der eigentlich schwierigste Schritt. Collins hofft indes, dass Algorithmen wie diese helfen werden. “Wir könnten die Kosten für klinische Studien drastisch senken”, sagte er gegenüber der Financial Times.
Eine ganze Welt von Heilmitteln öffnet sich
Noch größere Tragweite liegt womöglich in dem, was als nächstes passiert.
Wie viele neuartige Antibiotika warten wohl auf ihre Entdeckung, und wie weit kann uns die Überprüfung mithilfe von Künstlicher Intelligenz bringen? Die ersten 6.000 Verbindungen, die von Barzilay und Collins Team gescannt wurden, sind nur ein ganz winziger Anfang.
Sie haben bereits damit begonnen, viel tiefer zu graben, indem sie den Algorithmus auf 100 Millionen Moleküle aus einer Online-Bibliothek von 1,5 Milliarden Verbindungen namens ‘ZINC15’ Datenbank angesetzt haben. Diese erste Suche dauerte drei Tage und ergab 23 weitere Kandidaten, die sich ähnlich wie Halicin strukturell von vorhandenen Antibiotika unterscheiden und möglicherweise für den Menschen sicher sind. Zwei davon – die das Team eingehender untersuchen wird – scheinen besonders kraftvoll zu sein.
Noch ehrgeiziger ist Barzilay mit seiner Hoffnung, dass dieser Ansatz neuartige Antibiotika finden oder sogar entwickeln kann, die selektiv bösartige Bakterien mit Schnelligkeit abtöten und gleichzeitig die Guten schonen. Auf diese Weise würde eine Runde Antibiotika alles heilen, worunter jemand leidet, ohne dabei seine gesamten inneren Organe in Mitleidenschaft zu ziehen.
All dies ist Teil einer größeren Bewegung zur Verwendung von Algorithmen für maschinelles Lernen im langen, kostspieligen Prozess der Entdeckung von Heilmitteln. Andere Forscher auf diesem Gebiet trainieren ebenfalls Künstliche Intelligenz für den Einsatz im riesigen Möglichkeitsraum von Verbindungen mit Heilwirkung. Im vergangenen Herbst sah sich eines der führenden Unternehmen auf diesem Gebiet, Insilico, mt der Aufgabe konfrontiert, für einen Partner herauszufinden, wie schnell seine Methode die Arbeit erledigen kann. Das Unternehmen leistete innerhalb von nur 46 Tagen eine Machbarkeitsstudie für ein neues potentielles Medikament.
Das Sachgebiet ist jedoch noch in der Entwicklung und man muss abwarten, bevor man genauer beurteilen kann, wie wertvoll diese Ansätze letztlich in der Praxis sein werden. Barzilay jedenfalls ist optimistisch.
“Die Frage ist immer noch offen, ob maschinelle Lernwerkzeuge im Gesundheitswesen wirklich etwas Intelligentes bewirken und wie wir sie so entwickeln können, dass sie in der Pharmaindustrie nützlich sein werden”, sagte sie. “Dies wird zeigen, wie weit wir dieses Hilfsmittel einsetzen können.”
Bildnachweis: Halicin (obere Reihe) verhinderte die Entwicklung einer Antibiotikaresistenz bei E. coli – Ciprofloxacin (untere Reihe) dagegen nicht.
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